Landesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Rheinland-Pfalz e.V.

Verletzungen

Vom Umgang mit verletzendem Verhalten in Familien mit psychisch Erkrankten

Liebe Mama, kannst Du mir verzeihen, was ich zu Dir gesagt habe, bevor ich weggefahren bin?“ So steht es auf der Rückseite einer Urlaubspostkarte vom Millstätter See, abgestempelt 1971. Ich habe sie in einer Schublade gefunden, als ich vor einigen Jahren die Wohnung meiner Mutter räumen musste. Geschrieben hat sie meine Tante an meine Oma. Dieser Fund hat mich sehr berührt, denn damit klingt auch ein Stück Beziehung zwischen mir und meinem Sohn an, in der sich ein Kapitel unserer Familiengeschichte wiederholt: Zusammenleben mit einem psychisch Erkrankten.

Jahrzehnte sind vergangen, aber auch heute führt die Nähe zu den Menschen, die mit einer schweren psychischen Erkrankung leben müssen, zu Verletzungen, die Spuren hinterlassen. Ich weiß, dass auch die Betroffenen selbst oft sehr unter Verletzungen durch Familienangehörige oder die Gesellschaft zu leiden haben. Aber es ist besser, wenn sie selbst über ihre Erfahrungen erzählen. Ich schreibe jetzt aus der Perspektive einer Angehörigen.

In meiner Kindheit wohnte meine Tante, das „Sorgenkind“ meiner Oma, bei uns im Haushalt. Euphorische Phasen schlugen abrupt um in explosive Wutausbrüche, in denen sie alle und alles aufs Schlimmste verfluchte und es traf oft ihre Mutter und ihre Schwester. Wir Kinder suchten dann fluchtartig das Weite. Meine Oma bewahrte äußerlich Ruhe und versuchte, kein Öl ins Feuer zu gießen. Aber die verletzenden Worte waren gezischt, die Gesten bedrohlich und die Gegenstände geflogen. „Tobsuchtsanfälle“ nannten wir das. Nie fiel der Begriff „psychisch erkrankt“. Wie hat meine Oma all diese Verletzungen verschmerzt und wie konnte sie ihrer Tochter emotional nahe bleiben, bis sie 90jährig starb? Sie hat wenig darüber gesprochen, aber ich habe ihre weit aufgerissenen Augen und das kreideweiße Gesicht noch in Erinnerung.

Über Aggression im Zusammenhang mit persönlichkeitsverändernden Erkrankungen wie z.B. Schizophrenie oder Borderline-Störungen und Strategien zur Deeskalation wird geforscht und geschrieben. Aber wie gehen die Angehörigen mit Verletzungen durch wahnhafte Anschuldigungen, Androhungen von Gewalt oder rückhaltlosen Beschimpfungen um? Oder auch mit Kälte und Lieblosigkeit, wenn krankheitsbedingt jede Empathie fehlt? Wie können sie in Kontakt zu ihren Töchtern, Söhnen, Eltern oder Partner*innen bleiben und sich dennoch schützen? Wie können sie verschmerzen und weiter lieben?

Ich weiß nicht, ob all diese Fragen in Familien, die mit psychischen Erkrankungen belastet sind, öfter gestellt werden müssen, als in „normalen“ Familien. Aber ich weiß, dass ich sie mir stelle.

Nicht in allen Familien werden dazu lebbare Antworten gefunden und nicht selten kommt es zur letzten Verwundung: dem endgültigen Bruch. Auf den Stationen der psychiatrischen Kliniken trifft man auch aus diesem Grund nicht selten auf Patient*innen, die nie Besuch bekommen.

Ich kenne einige Angehörige, die wirklich traumatische Situationen erlebt haben, die ihre Ursache in ebenso traumatisierenden Erkrankungen haben. Nicht nur durch massive verbale Angriffe, bedrohliche Nachrichten oder Diffamierung in der Öffentlichkeit. Auch wenn – wie auf der Postkarte – dann in ruhigeren Phasen Entschuldigungen oder Gesten der Versöhnung folgen oder die Betroffenen selbst sich bald gar nicht mehr erinnern. Die meisten der Mütter, Väter, Geschwister oder Kinder sprechen nicht darüber, wie sie sich danach fühlen. „Geweint wird alleine im Auto“, drückte eine Mutter einmal ihren Umgang damit aus. Ein Vater meinte, dass nur Liebe ihm die Kraft gibt, die krankheitsbedingten Ausbrüche seiner Tochter auszuhalten. Eine andere Frau ergatterte nach einer heftig eskalierenden Situation mit ihrem Sohn endlich einen der raren Plätze für eine Traumatherapie. Es müsste viel mehr solcher Angebote geben, sowohl für Angehörige als auch für Betroffene. Denn viele gehen durch die Hölle.

Im geschützten Kreis der Selbsthilfegruppen wird manchmal zaghaft über seelische Wunden und traumatische Erfahrungen gesprochen. Scham, Loyalität und auch die Angst, die ohnehin schon bestehende Stigmatisierung psychisch Erkrankter noch zu verstärken, halten uns wohl nach wie vor von einem offenen und damit hilfreichen Umgang damit ab.

Dennoch haben die meisten Angehörigen ihre eigenen Strategien entwickelt, um zu verschmerzen. Gerade bei Eltern ist es oft eine unverbrüchliche Liebe zu ihrem „Kind“, das sie in Erinnerung haben und in dem veränderten Erwachsenen noch sehen können. Aber auch verstehen, was es bedeutet, als Betroffener mit einer solchen Erkrankung leben zu müssen, kann ebenso hilfreich sein, wie Selbstfürsorge und eine klare Abgrenzung. Ein Aufstellungswochenende mit erfahrenen Familientherapeuten hat mir noch eine andere Möglichkeit an die Hand gegeben. Es wurde sichtbar, dass mein Sohn und seine schizophrene Erkrankung sozusagen zwei Personen sind. Ich bekomme es also immer wieder mit seiner Erkrankung zu tun. Und so unterscheide ich jetzt, wer gerade mit mir spricht oder mir schreibt: Mein sonst so liebenswerter Sohn oder seine Krankheit. Das ist ungemein hilfreich. Es erlaubt mir Abstand zu gewinnen und wie als Kind, „das Weite zu suchen“ und dennoch weiter für ihn da zu sein.

Meine Tante starb 76-jährig allein in ihrer Wohnung. Längst war sie schon gefangen in paranoiden Wahnvorstellungen, die sie am Schluss völlig isolierten und Hilfe von außen unmöglich machten. Das Recht auf Selbstbestimmung ließ trotz aller Bemühungen keine andere Intervention zu. Als es mir endlich gelang, ihre Wohnung aufbrechen zu lassen, fanden wir nur noch ihre Leiche. Sie war bereits seit 5 Wochen tot. Aber ich erinnere mich noch heute daran, wie sie als junge Frau strahlend von ihren Reisen nach Hause kam, einen Strohhut auf dem Kopf und uns Kindern schillernde Muschelketten mitbrachte. Die guten Bilder sollen nicht verblassen. Auch das ist mein möglicher Umgang mit verletzenden Erfahrungen.

Verfasserin dem Vorstand bekannt

veröffentlicht am 13. Juni 2024 unter Aktuelles.