Ein Hilferuf hätte genügt?
Landestreffen am 26.02.2015 in Mainz, Erbacher Hof
Podiumsdiskussion des LV ApK in Rheinland-Pfalz zu dem Vorwurf der Vernachlässigung und der Erwartung von Verantwortungsübernahme durch Angehörige.
Im August 2012 hielt die Polizei im Landkreis Kaiserslautern einen offenbar ziellos umherfahrenden Wagen an, in dem eine Frau (49) mit ihren beiden Kinder (27 und 22) ihren toten Ehemann transportierte, der in der Nacht zuvor verstorben war. Der seit 2007 an einer paranoiden Schizophrenie erkrankte Mann hatte in den vorausgegangen Monaten aus Angst vor Vergiftung immer wieder die Nahrungsaufnahme abgelehnt und wog bei seinem Tod noch 40 kg bei 1,78 m Körpergröße. Die Einnahme von Medikamenten verweigerte er seit 2011. Der Familie drohte er mit körperlicher Gewalt, sollte er erneut in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Aus Angst, Scham und Hilflosigkeit fügte sich die Familie.
Wegen Körperverletzung mit Todesfolge in einem minderschweren Fall in Tateinheit mit Aussetzung mit Todesfolge in einem minder schweren Fall wurden die Ehefrau und beide Kinder im Oktober 2013 verurteilt: Die Ehefrau zu drei Jahren und neun Monaten ohne Bewährung, der Sohn zu einem Jahr und zehn Monaten mit Bewährung und die Tochter zu einem Jahr und sechs Monaten mit Bewährung (AZ: 6035 Js 15046/12.1 KLs vom 2.10.2013).
Das Vortatgeschehen
Vorausgegangen waren 2007 bis 2010 vier Klinikaufenthalte sowie eine mehrmonatige Behandlung durch die Institutsambulanz bis Ende 2010, 2009 die Einsetzung eines Rechtsanwalts als gesetzlicher Betreuer mit den Aufgabenkreisen Vermögenssorge, Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung und bis Anfang 2010 die Versorgung mit Medikamenten durch eine Sozialstation. Zusätzlich waren mit dem Kranken befasst ein Hausarzt und ein Betreuungsrichter. Ab Ende 2010 gab es keinen persönlichen Kontakt des Erkrankten mit dem Hilfesystem mehr, da er jegliche Hilfe verweigerte. Der letzte persönliche Kontakt mit dem Betreuer fand bereits Ende 2009 statt; danach gab es lediglich einige wenige Telefonate mit der Ehefrau. Die in häuslicher Gemeinschaft lebende Familie war in der Folge sich selbst überlassen. Sie versorgte den Ehemann und Vater regelmäßig mit Nahrung, die dieser aber häufig nicht annahm, versuchte zuletzt erfolglos ein Minimum an Körperpflege zu gewährleisten und reinigte die von ihm verunreinigte Wohnung. Nach mehreren Übergriffen schliefen Ehefrau und Kinder in verschlossenen Räumen. Scham, Angst und Uninformiertheit über die Erkrankung führten zur völligen Isolation und Überforderung der Familie und verhinderten, dass die Angehörigen Handlungsoptionen erkennen bzw. umsetzen konnten.
Ein Hilferuf hätte genügt!
Auf der Anklagebank saßen nach dem Tod des Ehemanns und Vaters die Angehörigen, wogegen alle in den Fall involvierten Beteiligten des Hilfesystems als Zeugen gehört und im Urteil explizit von jeglicher Mitverantwortung freigesprochen wurden. Die Verurteilung erfolgte vor allem, weil das Gericht der Auffassung war, die Angeklagten hätten erkennen müssen, dass die Situation für den Erkrankten sich lebensbedrohlich verschlechterte und die »rechtlich gebotene Handlung, lediglich einen Hilferuf zu tätigen (…) mit sehr geringem Aufwand verbunden gewesen wäre«.
Die Diskussion mit dem Hilfesystem
Zu der vom Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker (LV ApK) in Rheinland-Pfalz veranstalteten Podiumsdiskussion zu diesem Fall kamen ca. 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter viele Mitarbeitende des Hilfesystems. Der Diskussion stellten sich unter der fachkundigen Moderation von Dr. Daniela Engelhart (SWR): Dr. Gudrun Auert, Pfalzklinikum Kaiserslautern, Ursula Breuer, Betreuungsbehörde Mainz, Dr. Theo Falk, Richter a.D. Landau, Esther Herrmann, Angehörige, Dr. Dietmar Hoffmann, Sozialpsychiatrischer Dienst Mainz und Dr. Ulrich Kettler, Psychiatriekoordinator Neuwied. Das Ministerium konnte wegen anderer Verpflichtungen keine Vertretung entsenden.
Spürbar war bei allen Diskutanten die Betroffenheit, dass das Hilfesystem nicht gegriffen hat. Gleichzeitig aber wurden die aus der Sicht der beteiligten Institutionen maßgeblichen Begründungen ausgeführt, warum »man« nicht anders handeln konnte und auch in anderen Fällen nicht handeln kann.
Es sind die allen betroffenen Angehörigen wohlbekannten Gründe:
- das Recht auf Selbstbestimmung, das auch das Recht auf »Verrücktsein« einschließt, solange noch ein Rest von freiem Willen des Betroffenen ausgemacht wird, unabhängig von den Konsequenzen für das Recht auf Selbstbestimmung von Angehörigen, Nachbarn und anderen betroffenen Personen,
- die Datenschutzgesetze, die die Kommunikation z.B. zwischen Klinikärzten und nachsorgenden Einrichtungen ohne Einwilligung des Betroffenen be- oder verhindern,
- fehlende finanzielle und personelle Ressourcen für eine Begleitung eines erkrankten Menschen, die darauf ausgerichtet ist, eine Vertrauensbasis zu schaffen und so Therapieoptionen zu eröffnen, und natürlich
- fehlende Zuständigkeiten und Möglichkeiten zur Unterstützung der Angehörigen, auch wenn diese – wie im diskutierten Fall – kaum über eigene Ressourcen verfügen.
Sowohl bei einigen Podiumsmitgliedern als auch bei Einlassungen aus dem Plenum wurde deutlich, dass die Begrenzungen des Handlungsspielraums nicht nur bei Angehörigen, sondern auch bei manchem engagierten Profi zu frustrierender Hilflosigkeit führt.
Bemerkenswert war, dass die Rolle des u.a. für die Gesundheitsfürsorge eingesetzten Betreuers nur von einem Diskussionsteilnehmer thematisiert wurde mit der Frage, ob dieser tatsächlich alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft hatte. Während das Gericht in Kaiserslautern dies bejaht hatte, kam ein Braunschweiger Gericht in einem ähnlich gelagerten Fall zu einer anderen Einschätzung und verurteilte den Betreuer. Betreuer war in diesem Fall der Bruder des Opfers. Das Gericht befand: Wäre er nur Bruder gewesen, hätte ihn vermutlich keine Schuld getroffen. Als Betreuer aber musste er mehr tun.
Ein extremer Ausnahmefall?
Dass die Diskussion sich keineswegs um einen extremen Ausnahmefall drehte, sondern viele Angehörigengruppen ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zeigt ein Fall, der fast zeitgleich seinen vorläufig dramatischen Höhepunkt fand. Ein Elternpaar mit einem ebenfalls chronisch an einer paranoiden Schizophrenie erkrankten und zeitweise aggressiven Sohn hat bereits vor geraumer Zeit Rat und Unterstützung in einer Angehörigengruppe in Rheinland-Pfalz gesucht. Sie fühlten sich der Situation nicht länger gewachsen und befürchteten weitere Eskalationen. In einem Jahre währenden Prozess wandten sie sich mehrfach an eine Klinik, den Sozialpsychiatrischen Dienst, das Gericht (zwei Betreuungsversuche waren bereits gescheitert), sogar mit mehreren Anzeigen an die Polizei. Auch im Psychiatriebeirat wurde der Fall behandelt. Eine eigene Wohnung musste der Sohn aufgeben, nachdem er diese sowie Hauseinrichtungen demoliert und Nachbarn massiv bedroht hatte. Nach einem erneuten Klinikaufenthalt nahmen die Eltern ihn wieder auf, um ihm die Obdachlosigkeit zu ersparen.
Nur wenige Wochen nach der Podiumsdiskussion verletzte der Sohn beide Eltern mit einem Messer schwer. Und nun, nachdem »Blut geflossen ist«, explodierten die Aktivitäten »des Systems«. Der Sohn wird in einer forensischen Klinik untergebracht und voraussichtlich Jahre dort verbleiben; die Eltern werden medizinisch versorgt und ihnen wird eine Traumatherapie nahegelegt; Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und Sachverständige werden bemüht.
Es bleibt die bittere Erkenntnis, dass im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, in der Grauzone zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und der Verpflichtung des sozialen Umfelds und des Hilfesystems zum Handeln die Verantwortung für die »richtigen« Entscheidungen zum »richtigen« Zeitpunkt in beiden Fällen allein den völlig überforderten Angehörigen überlassen bzw. übertragen wurde. Und diese haben auch allein die Folgen zu tragen. Neben den jahrelangen Belastungen und Beeinträchtigungen der eigenen Lebensführung zahlten die einen mit der Verletzung ihrer eigenen körperlichen Unversehrtheit, während bei den anderen die aus Hilflosigkeit und Scham resultierenden Unterlassungen letztlich zum Tod des Ehemanns und Vaters und zur Kriminalisierung der bis dahin unbescholtenen Familie führte.
Bericht: Leonore Julius, Mitglied im Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker in Rheinland-Pfalz
Die Tagung wurde gefördert von den Krankenkassen: BARMER GEK, Kaufmännische Krankenkasse KKH, Techniker Krankenkasse TK
Hier können Sie das Protokoll der Tagung herunterladen
veröffentlicht am 12. März 2015 unter Landestreffen.